Weltkultur: Kulturelle Globalisierung?

Weltkultur: Kulturelle Globalisierung?
Weltkultur: Kulturelle Globalisierung?
 
Eine Vision begleitet das zu Ende gehende 20. Jahrhundert - die Vision des »global village«, wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan 1967 die »zum Dorf zusammengewachsene Welt« nannte: Netze der Kommunikation lassen die Dimension des Globus auf die Größe einer beschaulichen Siedlung nostalgischer Prägung schrumpfen, Kunst und Kunstproduktion lassen sich mit dem Internet weltweit austauschen. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo entwarf ein Bild vom gegenwärtigen Menschen, der hilf- und richtungslos in globalen Vernetzungen zappelt. Vermag demgegenüber der Kontext der Lebensform, die Kultur so etwas wie Orientierung zu verleihen?
 
In der Tat sind Prozesse einer Internationalisierung von Kunst und Kultur nicht von der Hand zu weisen: Die Tätigkeit der Künstler ist international. Reisten sie seit Beginn der Neuzeit zu den verschiedensten Fürstenhöfen, so jetten sie heute um den Erdball. Auch ein fundamentaler Wandel in der Einstellung weiter Bevölkerungskreise zur Gegenwartskunst begünstigte die Internationalisierung der Kunstproduktion in den prosperierenden Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts: Gerade die bürgerlichen Schichten waren nun bereit, aktuelle Kunst zu akzeptieren, die Galerien boomten, Museumsneubauten schossen weltweit aus dem kulturgedüngten Boden. Diesen Trend zur Popularisierung unterstützte ein ähnlich tief greifender Umschwung in der Kunstauffassung einer jungen Künstlergeneration, die seit den Siebzigerjahren den Konzepten und Theorien der immer wieder neu aufgelegten Avantgarde abschwor - Kunst ließ sich wie wechselnde Modeerscheinungen behandeln. Die »Neuen Wilden« richteten den Blick wieder auf die Malerei. Andere entdeckten das Objekt wieder und nutzten es - neu gedeutet - nicht zur Kritik am »Konsumterror«, sondern zur Ästhetisierung der Alltagswelt, was vor allem zur vollkommenen Eingliederung der Kunst in die Welt der international verbreiteten Konsumgüter und des Überflusses führte.
 
Nach dem Zusammenbruch der Staaten des Ostblocks schritt der Prozess der Internationalisierung der westlichen Vorstellungen von Kunst und Kultur, von Kunstproduktion und -vermarktung sowie vom Ausstellungswesen unaufhörlich fort, nachdem er fast 70 Jahre lang - bedingt durch Stalins Kulturpolitik, den Zweiten Weltkrieg und den »eisernen Vorhang« - stagniert hatte. Noch 1981 hatte eine wegweisende Kölner Ausstellung den Titel »Westkunst« tragen können. Die Internationalisierung von Lebensstilen und Kunstströmungen gehört zum Bild des 20. Jahrhunderts wie die ständig wechselnden Moden. So begann spätestens 1913 mit der »Armory Show« in New York der internationale Austausch von Avantgardeströmungen. Kubistische Werke reisten bereits früh zwischen Paris und Sankt Petersburg, Berlin und London hin und her. Die Architektur lebte geradezu von der Globalisierung ihrer Stile, wie auch der »Internationale Stil« der Zwanziger- und Dreißigerjahre zeigt. Weltweite Aktivitäten der Wirtschaft und die damit verstärkte technologische Entwicklung, besonders der Kommunikationsmittel, erzeugten wiederum einen erheblichen ökonomischen Druck, der in den Achtzigerjahren zu einer veränderten Situation führte. Produkte glichen sich für vernetzte Märkte ständig weiter an. Diese Vereinheitlichung der Waren führte, besonders bei den optisch wirksamen Produkten, zu einer Standardisierung auch der Wahrnehmung.
 
Grenzen verwischen sich: Die Alltagskultur erfährt eine ständig wachsende Ästhetisierung, das Kunstobjekt unterliegt einer verschärften Kommerzialisierung. In einer »Weltkultur« spielen Kunst und Kultur ihre Rollen auf der Bühne einer ökonomisch ausgerichteten Politik und Gesellschaft. So will etwa das kulturprägende Ausstellungswesen heute kaum noch den Horizont des Besuchers erweitern oder dessen Auseinandersetzung mit Kunst fördern. Der Ausstellungsbesucher entpuppt sich vielmehr als Flaneur, der mit der Leinentasche, auf die das Logo der von ihm besuchten Ausstellung gedruckt ist, seine Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Elite signalisiert. Diese weltweit anzutreffende »petite bourgeoisie planétaire« - ein Wort des französischen Philosophen Jacques Henric - verfügt über ein historisierendes Weltbild, das ihr die Rezeption aller Facetten der Vergangenheit ermöglicht, auch wenn es nur die Surrogate künstlerischer Produktion sind, die ihnen ein elitäres Bewusstsein verschaffen. Dieser Eklektizismus kommt den Mechanismen des Marktes entgegen, der ein ständiges Wachstum fordert. Wie Zahnräder greifen hier Kunstproduktion und -vermarktung sowie die Ästhetisierung der Alltagswelt in einer internationalen Maschinerie ineinander.
 
Die Bilderwelten der neuen Medien bestimmen zunehmend Alltagserfahrung und Wirklichkeitsverständnis. Dieser Bilderflut sind besonders die Heranwachsenden ausgesetzt. Mehr noch: Die oberflächliche Dekoration der Alltagswelt ergreift die Jugendlichen unmittelbar durch »Styling«, »Body-building« oder als Selbstinszenierung in Discos. Das Erscheinungsbild des Jugendlichen wird damit zum Bestandteil der Konsum- und Erlebnisgesellschaft und deren Massenproduktion. Weltweite Vernetzung und Vermarktung führen zu neuen Formen der Wahrnehmung: Standardisierung und Fragmentisierung drohen den Menschen auf seine bloße Konsumentenrolle zu reduzieren. Sein Weltbild ist bereits vielfach durch Zapping geprägt, besteht aus Facetten, die im Kopf des »Users« notdürftig zusammengeflickt werden. Eine virtuelle Wirklichkeit braut sich zusammen, in die sich der »User« zurückziehen kann - »Cocooning« entsteht, der stärkste Gegensatz zu www und Globalisierung.
 
Sind diese Phänome Schritte auf dem Weg zur Weltkultur? Welchen Ort können »Kultur« und »Kunst« in der globalisierten Welt einnehmen? Wenn es jemals einen Wettstreit der Künste gegeben hat, haben dann nicht längst die neuen Medien lautstark die Führung übernommen?
 
Künstler, Literaten, Musiker und Poeten sind diejenigen, die Kulturwelt, unendlich viele Kulturwelten konstruieren, selbst wenn sie sich elektronischer Medien bedienen. Sie sind es zumeist, die nicht dabei mitspielen, den Menschen auf bloße Konsumhaltung oder lediglich optische Wahrnehmung zu beschränken, und die Ganzheiten entwickeln, die alle Sinne des Körpers beanspruchen. Multiperspektivität und Mannigfaltigkeit, die schon Marcel Proust in der Anfangszeit der massenhaften Technisierung forderte, sind Sache der Kulturschaffenden.
 
Weltentwürfe entstehen als Alternativen zum Modell »Globalisierung«. Daran beteiligen sich viele mit den unterschiedlichsten Mitteln - Künste gibt es, nicht die Kunst, schon gar nicht die Weltkunst. Indem Künstler hierfür sorgen, sichern sie dem Individuum die Freiheit, ein Leben jenseits einer Existenz als bloßer Konsument weltweit vernetzter Wirtschaftsstrategien zu führen. Experiment und Innovation zur Erstellung von Welten sind seit Jahrtausenden Aufgaben der Kunst - daran werden auch Internet und Massenmedien wenig ändern. Künstlerische Produktion besteht aber nicht nur aus Originalität - einer Forderung, die erst seit der Renaissance an »die Kunst« gestellt wird -, sondern auch aus Widerstand. In Adornos Ästhetik erscheint dieses Bild der Kunst bereits vorgeprägt: Die Kunst der Moderne bedeutete für ihn den Abschied von einer nur gewaltsam, um den Preis der Ausgrenzung von Widerspruch durchzusetzenden Einheitsidee, in der er die Fiktion einer Sinntotalität zu erkennen glaubte.
 
Gleichzeitig mit jenen Kunstströmungen, die sich gut kommerzialisieren lassen, entstehen neue, regionale Kulturszenen: Industriebrachen, ehemalige Zechen- und Hüttengelände, leer stehende Fabrikgebäude werden zu neuen Ausstellungshallen und Ateliers. Oft von der Achtundsechziger-Bewegung ausgehend, bilden sich hier Kristallisationspunkte, in denen sich Kunst in Form von Happenings, Installationen und Performances realisiert. Neue kulturelle Identifikationen werden gerade auch in überschaubaren Regionen und ihren Traditionen möglich - ohne jeden Anspruch auf internationale Anerkennung.
 
Wenn man also nicht von »der Kunst« sprechen kann, sondern höchstens von den »Künsten«, so kann man erst recht kaum von einer Weltkultur reden. Dieser Begriff wäre so zu verwenden wie derjenige der »Weltgeschichte«, von der Schiller meinte, »der Universalhistoriker (hebe) aus der ganzen Summe der Begebenheiten diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und die jetzt lebende Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluss gehabt haben«. Nach Hegel kann sich der Sinn der Geschichte nur erschließen, wenn sich die Richtung ihres Ganges eindeutig bestimmen lässt und zugleich zunehmend differenzierter betrachtet wird: Aus der Geschichte einzelner Städte, Staaten und Völker werde Menschheitsgeschichte als Prozess, eingebettet in eine sich formierende Weltkultur. Ein derartiges Bild ist nur vor der Folie des aufklärerischen Fortschrittsglaubens denkbar. So bemerkte Kant, »die Tendenz zum continuierenden Fortschritt des Menschengeschlechtes zum Besseren. .. (sei) eine moralisch-praktische Vernunftidee«. Goethe führte 1827 den Begriff der »Weltliteratur« ein und glaubte an den gemeinsamen Besitz der Werke aller »Kulturvölker«. So lebt auch der Begriff »Weltkultur« von dem optimistischen Fortschrittsglauben, dass sich alle Kunstströmungen letztlich in einem umfassenden Welthorizont zusammenfänden. Jürgen Habermas meinte, die Moderne als Projekt der Aufklärung sei »unvollendet« geblieben - in der Vision einer »Weltkultur« könnte sie ihre letztliche Vollendung erleben. Die aufklärerische Idee der Vernunft verkam zur Vernunft der Macht, zur »zynischen Vernunft«, wie Peter Sloterdijk bemerkte.
 
Die Idee des »global village« sollte also nicht zu der Annahme verführen, es könne sich daraus so etwas wie eine »Weltkultur« oder »Weltkunst« ergeben. Die Verfügbarkeit von Kunst in einem konventionellen ästhetischen Sinn wird durch das Internet sicherlich ebenso forciert wie durch die Verstärkung des internationalen Ausstellungsbetriebs oder die weltweite Vermarktung und Kommerzialisierung kultureller Produkte. Dennoch wird sich kein »Welthorizont« abzeichnen, in dem die Kunst aufgehen könnte. Vielmehr wird es »Künste« geben - regionale Ausdrucksformen, die sich mit Traditionen und Problemen einer Region oder einer ethnischen Gruppe auseinander setzen. Individuelle Konzepte und Identifikationen werden Traditionen fortsetzen, zugleich wird der globale Austausch - verflochten mit der wirtschaftlichen Entwicklung - zunehmen.
 
Prof. Dr. Kunibert Bering
 
 
Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1998.

Universal-Lexikon. 2012.

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